13. Juni 2001

TIBET INFORMATION NETWORK

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Teil 1

Pläne für eine dramatische Veränderung Lhasas

Bau eines großen Zielbahnhofes

Wie von Tibet Daily berichtet wird, soll die Endstation in Lhasa für die geplante Eisenbahnlinie von Qinghai und anderen chinesischen Provinzen nach Zentraltibet in der Ortschaft Ne'u (chin. Liuwu) im Kreis Toelung Dechen (chin. Duilongdeqing) gebaut werden, mit einer Brücke zum Anschluß der Ortschaft an das auf der gegenüberliegenden Seite des Kyichu Flusses gelegene Stadtzentrum von Lhasa. Diese Nachricht über den Zielbahnhof paßt gut zu Chinas Plänen, diese Gegend mittels high-tech Industrie in die "Liuwu New Area" zu konvertieren.

Die Stadtverwaltung von Lhasa verfolgt derzeit ehrgeizige Pläne, um die Fläche des urbanen Lhasa von seinen bisherigen 53 qkm bis zum Jahr 2015 um mehr als das Vierfache auf 272 qkm zu vergrößern und die Stadtbevölkerung in den nächsten 4 Jahren um 30% zu steigern. Ein Bericht aus Peking besagt, daß die "Liuwu New Area" und eine 12,5 qkm umfassende Entwicklungszone "bahnbrechend für die wirtschaftliche Entwicklung Lhasas, ja eigentlich der ganzen autonomen Region sein werden" (Beijing China Internet Information Centre, 4 June).

Berichten aus Tibet zufolge steigen bereits die Grundstückspreise in der Ne'u Gegend, und es heißt, tibetische Bauern und Ortsansässige müßten eventuell umgesiedelt werden, um für die neue Entwicklung Platz zu schaffen.

Lhasas Bevölkerungsboom setzte in den Achtzigern ein und ist weiterhin im Steigen begriffen. Plänen des Zehnten Fünfjahresplanes der Partei (2001-5) zufolge soll sich die Bevölkerung des Stadtgebietes Lhasa in dem 15 Jahre umfassenden Zeitraum von 1990-2005 mehr als verdoppeln. Die Stadtfläche Lhasas, die vor 50 Jahren, als die Chinesen die Herrschaft über Tibet an sich rissen, nicht mehr als 3 qkm betrug, mit einer Einwohnerzahl von 20-30.000, expandierete offiziellen Statistiken zufolge letztes Jahr auf 53 qkm bei einer Einwohnerzahl von 230.000. Inzwischen stieg die Gesamtbevölkerung des 532 qkm umfassenden "Stadtgebiet Lhasa" (Kreisebene) auf 470.000. Nach dem Fünfjahresplan ist das kurzfristige Ziel, die Stadtfläche bis Ende 2005 auf 70 qkm zu erweitern und die Stadtbevölkerung von 230.000 auf "über 300.000" anwachsen zu lassen (Beijing China Internet Information Centre, 4 June). Dies würde einen weiteren Bevölkerungsanstieg um 30% innerhalb von nur 5 Jahren bedeuten, ausgelöst durch die zu erwartende Flut an chinesischen Zuwanderern sowie durch die Urbanisierung der bestehenden Wohngebiete. Berichte aus Tibet lassen schließen, daß die derzeitige Bevölkerung von Lhasa zumindest zu 70% chinesisch ist.

Die tatsächlichen Bevölkerungszahlen liegen durchweg höher als die offiziellen Statistiken angeben. Offizielle chinesische Erhebungsdaten für die Region schließen nicht das Militär oder die aus Wirtschafts-Migranten bestehende "fluktuierende Bevölkerung" ein, die hauptsächlich in den städtischen Gebieten ansässig ist. Kader der Stadtverwaltung Lhasas gaben 1998 zu, daß ein Drittel der Bevölkerung der Stadt aus "temporären Bewohnern" bestehe. Im Hinblick auf das langfristige Ziel der Erweiterung der urbanen Fläche auf 272 qkm bis zum Jahr 2015 würde über die Hälfte des "Stadtgebiet Lhasa" (Kreisebene) der urbanen Entwicklung zum Opfer fallen.

Die offiziellen Zahlen sprechen von einer jährlichen Zuwachsrate von etwa 5,5% für die Periode 2000-2005, was die 5,1% Rate für das Jahrzehnt von 1990-2000 noch übertreffen würde, ein Zeitraum, in dem die räumliche Expansion der Stadtfläche nicht signifikant war. Der Prozentsatz für den Bevölkerungszuwachs Tibets im letzten Jahrzehnt ist etwa fünf mal so hoch wie der offiziell behauptete nationale Durchschnitt von 1,07% (China Daily, 28. März). Der Zustrom von Chinesen, die auf der Suche nach Arbeit sind, wird sich wahrscheinlich auf den Bau der Eisenbahnlinie nach Lhasa hin dramatisch erhöhen.

Die am südlichen Ufer des Kyichu (Lhasa) Flusses gegenüber dem westlichen Teil der Stadt gelegene Siedlung Ne'u ist einer der Hauptstandorte für die wirtschaftliche Entwicklung im Großraum Lhasa. Tibet Daily berichtete am 21. März, im Hinblick auf die Errichtung des Bahnhofes am Flußufer in der Gegend von Ne'u seien bereits Vermessungsarbeiten im Gange.

Planungskarten, die 1982 veröffentlicht wurden, zeigen die Landnutzung in der Stadt mit dem Stand von 1980, sowie die offiziellen Zielsetzungen für 2000. Die Karten, welche auch die Lage der Bahnstationen aufweisen, können unter www.tibetinfo.net/reports/lhasamaps.htm angeschaut werden. Während der Plan für den Verlauf der Eisenbahnlinie nach Lhasa seit der Erstellung der Karten geändert wurde, entspricht die Lage des Zielbahnhofes in Ne'u wohl noch dem ursprünglichen Plan, denn der für diesen Zielbahnhof in dem Stadtgebiet Lhasa vorgesehene Baugrund wurde noch nicht anderweitig genutzt. Die Karte zeigt, wie die Eisenbahnlinie über den Fluß nach Lhasa führt und in einem kleineren Passagierbahnhof auf der Stadtseite des Flusses, etwa 2,5 km südlich des Klosters Drepung, endet. Tibet Daily zufolge wird dieses Jahr eine Brücke von Ne'u nach Lhasa gebaut, wobei unbekannt ist, für welches Verkehrsvolumen sie vorgesehen ist. Zum Bau des Zielbahnhofes in der Siedlung Ne'u muß ziemlich viel Terrain von der Überflutungsebene des Flusses urbar gemacht werden.

Die von Nordwesten nach Lhasa führende Eisenbahnlinie fällt zuerst von der Grenze von Qinghai/TAR nach Nagchu und Damshung ab und folgt dann dem Toeling Fluß von Yangpachen durch den Kreis Toelung Dechen nach West-Lhasa.

Teil 2

Entwicklung und Umsiedlung in Lhasa

Berichte aus Lhasa lassen schließen, daß einige tibetische Bauern in Toelung Dechen ihren Wohnsitz verlassen müssen, um für die neue Entwicklung Platz zu machen. Ein ehemaliger tibetischer Regierungsangestellter, der nun im Exil lebt, meinte TIN gegenüber: "Ein paar Bauern bekommen vielleicht eine kleine Entschädigung für ihren Grund und Boden, aber sicherlich ist es nicht genug, um sie für den Verlust zu kompensieren. In ähnlichen Fällen von Umsiedlung in tibetischen Gebieten klagten die Bauern bitterlich, weil sie keine Entschädigung bekamen, aber sie dürfen dies ja nicht laut sagen". Der Druck auf Tibeter, sich hinsichtlich des Baus der Eisenbahnlinie an die Parteipolitik zu halten, wird wegen der hohen, dem Projekt eingeräumten Priorität sicherlich gewaltig sein; schließlich handelt es sich ja um eines der infrastrukturellen Schlüsselprojekte in dem Budget der Zentralregierung für 2001. Ein nun im Exil lebender, ehemaliger tibetischer Beamter aus Qinghai meinte: "Würden Tibeter sich offen gegen die Eisenbahnstation aussprechen, so beschuldigte man sie als Spalter, als Leute, welche das Land zerstören wollen".

Offizielle Berichte über den Bau der Eisenbahnlinie nach Lhasa geben eine andere Perspektive. "Alle Dorfbewohner der Gemeinde waren außer sich vor Freude, als sie von dem neuen Bahnhof hörten, sie rannten gleich zu ihren Nachbarn, um es ihnen mitzuteilen, und schmiedeten Pläne für eine herrliche Zukunft", weiß Tibet Daily am 22. März zu berichten. "Der 63-jährige Jampa Ngodrup erklärte etwa: Ich konnte die letzten paar Tage gar nicht schlafen, denn wenn ich daran denke, wie ich nun den Pfeifton des Zuges mit eigenen Ohren höre und ihn mit eigenen Augen vorbeiflitzen sehe, bin ich ganz aufgeregt. Früher hätte ich von so einem Tag nicht einmal träumen können!"

Der Bau der 1.118 km langen Eisenbahnlinie von Golmud in Qinghai nach Lhasa in der TAR bildet einen wichtigen Teil der Pekinger Kampagne zur Entwicklung des Westens Chinas, wozu auch die TAR, sowie die tibetischen Gebiete in Qinghai, Sichuan, Yunnan und Gansu zählen. Die Eisenbahnverbindung und die Stationen in Tibet werden die Ausbeutung von Tibets Mineralien und Naturschätzen erleichtern, Groß- und Kleinunternehmern bessere Chancen geben und neue Arbeitsplätze schaffen. Der Bau der Eisenbahn soll die Integration der tibetischen Gebiete in die nationale Wirtschaft beschleunigen. So stellt Tibet Daily am 22. März fest: "Wenn die Qinghai-Tibet Eisenbahn erst einmal eröffnet wird, dann werden die landwirtschaftlichen Produkte und das Erz von Ne'u leicht nach Lhasa und sogar bis ins Mutterland befördert werden können. Toelung Dechens Distriktchefin Zhugoa (Drolkar) erläuterte Tibet Daily (2. April), die Nachricht vom geplanten Bau der Eisenbahn hätte bereits "ungeahnte Geschäftsmöglichkeiten" für den Distrikt gebracht. Sie fügte hinzu, schon aus 10 Provinzen und Städten seien Firmenvertreter angereist gekommen, um die Investitionschancen zu eruieren.

Teil 3

Feuchtgebiet soll in einen Freizeitpark für Touristen verwandelt werden

Die neuen Pläne für die Entwicklung Lhasas beziehen sich auch auf die Umwandlung eines 6,2 qkm großen Sumpfgebietes in eine "Touristenattraktion", womit wohl ein Stück morastiges, unerschlossenes Land gemeint ist, das sich vom Zentrum der Stadt entlang des nördlichen Stadtrandes bis Drepung im Westen erstreckt. Auf den Stadtplanungskarten ist ein Großteil davon als Sumpfgebiet markiert (www.tibetinfo.net/reports/lhasamaps.htm). Ein Bericht des China Internet Informationszentrum von Peking vom 4. Juni besagt: "Die Erschließung des Feuchtlandes muß forciert und die Ökologie des Ortes muß geschützt werden. Lhasa wird 200-300 Mio. Yuan bereitstellen, um aus dem Feuchtgebiet eine Touristenattraktion zu machen und feste Straßen um es herum anzulegen".

Die neuen Pläne zeigen Lhasa als eine schnell expandierende Stadt mit Hochhäusern und Gebäuden im "tibetischem Stil" in der zentralen Barkhor Gegend. Das Beijing China Internet Information Centre berichtete am 4. Juni: "Bei der baulichen Gestaltung von Lhasa legte die Lokalregierung viel Wert auf den Erhalt der Volkscharakteristik... Insbesondere in den alten städtischen Gebieten muß die Anlage von Hauptstraßen und Gebäuden dem Stil der traditionellen tibetischen Kultur folgen... Gebäude an den Hauptstraßen sollten alle im tibetischen Stil sein". Steven D Marshall, der zusammen mit Dr Susette Cooke die CD-ROM "Tibet outside the TAR" erstellte, meinte hierzu: "Was in der modernen Bauweise oft als 'tibetische Charakteristika' bezeichnet wird, bezieht sich gewöhnlich auf oberflächliche Verzierungen, so wie schwarze Umrahmungen der Fenster und farbige Verzierungen an Säulenkapitälen und Balken. Das gefällt vielleicht den Touristen, aber sagt wenig über die Tradition der tibetischen Architektur aus."

Der tibetische Teil Lhasas, der einen Teil der Barkhor Gegend und einen Teil des Areals um den Potala umfaßt, macht nun weniger als 2% der Stadtfläche Lhasas aus.

Teil 4

Die Entwicklungspläne lassen weitere Marginalisierung der Tibeter befürchten

Der ehemalige tibetische Beamte aus Qinghai, der auch in Lhasa gewohnt hat, äußerte TIN gegenüber, die wirtschaftliche Entwicklung von Toelung Dechen würde als Folge der neuen Eisenbahnstation die Anzahl von chinesischen Arbeitern in der Gegend vermehren, aber nicht unbedingt den dort lebenden Tibetern zugute kommen. "Viele neue Hotels und Restaurants werden gebaut werden, und viele Leute aus China, die dort ihren Job verloren haben, werden kommen, um andere Arbeit zu finden", meinte der Tibeter. "Es mag bei dem Bau von Läden und Restaurants vielleicht einige kurzzeitige Vorteile für die ortsansässigen Tibeter geben, aber der Zustrom von mehr und mehr gut ausgebildeten chinesischen Fachkräften bedeutet, daß die lokalen Tibeter sich nur ein paar Jahre in diesen Jobs werden halten können und allmählich an den Rand gedrängt werden. Nach dem Bau der Eisenbahnstation in Xining (in Qinghai) etwa fanden örtliche Bewohner Arbeit als Reinigungspersonal, Fahrkartenverkäufer usw., aber allmählich verloren viele durch die Konkurrenz viel besser ausgebildeter chinesischer Wanderarbeiter wieder ihre Stelle".

Ähnlich werden die offiziellen Pläne zur Schaffung einer 12,5 qkm großen high tech Zone in Lhasa ganz gewiß viele chinesische Arbeiter und Fachleute anziehen, aber es ist zu bezweifeln, ob Tibetern eine so gute Ausbildung und das notwendige Training geboten werde, damit sie auf einem spezialisierteren Arbeitsmarkt konkurrenzfähig wären.

Der ehemalige Beamte äußerte TIN gegenüber, die Hauptnutznießer von dem Bau der Eisenbahn nach Lhasa wären die Chinesen und nicht die einheimischen Tibeter: ";Wenn die Chinesen den Bau (von Projekten wie der Eisenbahn) in die Hand nehmen, ist es möglich, daß einige Tibeter Arbeit finden, aber der Hauptgewinn geht an die chinesischen Privatgesellschaften und die Regierung".

Der Bau der Tibet-Qinghai Eisenbahn sollte ursprünglich im Juli beginnen. Der stellvertretende Regierungschef der TAR Choephel soll jedoch neulich gesagt haben, der Beginn könnte auf nächstes Jahr verschoben werden, weil Experten noch mit Untersuchungen zur Lösung der drei Hauptprobleme befaßt sind: "Diese sind: die Schienen auf gefrorenem Boden so zu verlegen, daß sich das Metall nicht verbiegt, wenn das Eis schmilzt; die Schienen in hoch gelegenem Terrain zu verlegen, und die empfindliche lokale Ökologie zu schützen" (South China Morning Post, 24. Mai). Ein weiterer Bericht in den offiziellen Medien erwähnt jedoch, daß diesen Monat 10.000 Bauarbeiter in Golmud eintreffen werden, um im Juli die Arbeit an der Eisenbahnlinie nach Lhasa zu beginnen (China Youth Daily).

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